Dolva

Sie wird auch die Ungesehene genannt.
Als eines von vielen Kindern in der Familie, irgendwo in der Mitte, fühlte sie sich wie ein Geist. Sie war nicht mehr klein genug, um umsorgt zu werden, wie ihre jüngeren Geschwister, hatte nie genug Kraft und Selbstbewusstsein lernen können, um ihren eigenen Weg zu gehen, wie die Älteren. Sie hielt sich für nicht schön genug, nicht schlau genug, nicht begabt genug, um irgendwie herauszustechen. Sie war immer nur im Weg.
Nur im Wald, bei den Tieren fühlte sie sich wohl und geborgen. Im tiefen Schatten der Bäume, unter Wurzeln und hinter den Brombeersträuchern, dort wo die Kellerasseln und Käferchen lustig auf ihr krabbelten, da war sie sicher. Die Vögel schienen nur für sie zu singen, und manchmal, wenn sie ganz still da saß, kam ein neugieriges Reh ganz dicht heran und schnupperte an ihrer Nase.
Doch bald kam der Winter, die Vögel suchten sich ein warmes Plätzchen oder zogen gen Süden, die Käferchen krabbelten tief in die Erde und in Baumrindenverstecke. Traurig blickte Dolva ihnen nach. Dann hörte sie eine zarte Stimme „Komm mit uns“..
Sie schloß die Augen und wünschte sich nichts sehnlicher.

Druck auf 250g naturweißem Strukturpapier mit Leinanteil.